GEDANKENKABINETT Nichts muss bleiben, wie es ist.
                      GEDANKENKABINETTNichts muss bleiben, wie es ist.

Das Böse

 

Das Böse schleicht auf leisen, weichen Pfoten. Es ist gar schön und lieblich anzusehen, - zeigt es sich doch erst nicht. Es umschmeichelt dich und lässt dich glauben, sein Gesicht sei wahr. Es verspricht dir allerlei und gaukelt lustig vor, gut zu sein.

Doch Obacht! Das Böse ist ein Meister des Fallenstellens, eine blendende Diva der großen Bühne, die zunächst selten bricht. Fällt die Maske, kommt das Monster hervor.

 

Das Böse, das radikale wie das banale[1], ist kein Abstraktes noch Personifiziertes, auch wenn es in den meisten Fällen Person wird.

Es kommt in die Wirklichkeit durch konkrete Personen und deren Handlungen. Wenn dies so ist, dass durch konkrete Personen und konkrete Handlungen das Böse Gestalt erhält, befinden sich diese Personen in einem System ihrer Bewertungskategorien, mit denen bestenfalls vernunftbegabte Wesen Personen beziehungsweise deren Handlungen „beurteilen“/ „bewerten“.

Sind dann Kriterien wie „a-moralisch“, „a-sozial“, „a-logisch“ noch auf Personen und deren Handlungen anwendbar?

Ich glaube, dieser Punkt markiert eine Weichenstellung mit weitreichenden Implikationen, die es zu betrachten gilt, und sage:

 

Das Böse ist ein Modus, genauer die Bezeichnung des Modus einer Handlung einer Person durch eine Person und somit subjektiv.

Es ist eine Art und Weise, die sich zumindest mir grob durch Dreierlei kennzeichnet:

 

Erstens:

Das Böse ist unberechenbar.

Es folgt sehr gut kulturellen wie sozialen Formen. Darin ist es gut. Wie gleich zu Beginn gesagt, das Böse ist ein Meister des Fallenstellens. Völlig unerwartet und unvernünftig (Anmerkung: Jeweils der geltenden Norm entsprechend!) zeigt es sein Antlitz, wo es vernunftgemäß nicht erwartet wurde und wird.

Und es weiß dies allzu gut. Es kennt die Schlagkraft des Unerwarteten, für das es keine Worte gibt.

Dementsprechend verhält es sich alogisch. Mit Vernunft kommst du ihm nicht bei. Vielmehr noch bist du mit deiner Vernunft an diesem Punkt verloren.

 

Zweitens:

Das Böse fegt ganz selbstverständlich über die Grenzen des Du, des Anderen hinweg.

Auch hier entspricht es nicht der anerkannten Norm. Das Böse kennt keine Menschenrechte, keine Norm, keine Absprache. Es verspottet diese sogar.

Das Böse ist nie und zu keinem Augenblick fair.

Das Böse liebt es, Grenzen zu verletzen.

Es lacht sich ins Fäustchen, wenn das Du von anderen Spielregeln ausgehst. Das Böse kennt keine Spielregeln, es ist gegen jede Regel gewappnet.

Das Böse ist das Gegenteil von sozial.

Indem das Böse rücksichtslos, grausam und gewalttätig vorgeht, wird es als brutal bezeichnet.

Da das Böse ein der gängigen Konvention diametral entgegenstehender Modus ist, Konvention etwas Urzivilisatorisches ist, ist die Verwendung des Begriffs „brutal“ irreleitend.

Brutalis, das bedeutet tierisch, ist kein Tier. Tiere leben nicht unter moralischen Gesetzen und ethischen Konventionen. Tierischer Instinkt ist niemals und zu keinem Zeitpunkt böse. Nur der Mensch vermag, böse zu handeln, zu sein nicht.

Um den homo sapiens sapiens als böse oder gut seiend zu bezeichnen, bedürfte es eines nichtmenschlichen, das bedeutet nicht mit den menschlichen Verhaltensweisen, Konventionen, Moralen…vertrauten, auktorialen allem übergeordneten personifizierten Ur-Prinzips, das heißt, eines außerhalb dem System homo sapiens sapiens stehenden urteilsfähigen Etwas. (Und auch dieses hätte seine eigenen Regeln.)

 

Drittens:

Das Böse ist gnadenlos vor allem Leid, jeder Not, sämtlichem Schmerz.

Empathie kennt es pervertiert. Es suhlt sich im Leid des Anderen und deutet es als einen Gewinn über das Du. Das Böse liebt es, wenn du winselst. Dann fühlt es sich am Leben und bestätigt. Hier hat es einen Machtpunkt über den Tod gefunden und kostet ihn vollkommen aus. Im Leid des anderen ist das Böse unsterblich für einen Augenblick. Schaue ich mich in der aktuellen Geschichte um, erlebe ich die um sich greifende Allgegenwart der mitleidlosen Gesellschaft. In diesem Sinne ist eine mitleidlose Gesellschaft eine unter der Herrschaft des Bösen.

Das Böse hält sich dennoch für gut. Insofern ist das Böse extrem.

Hat das Böse gar so etwas wie ein Interesse, eine Präferenz, eine Vorliebe? Nein. Das vollkommene Böse „will“ gar nichts. Es verfolgt keine Strategie. Es folgt auch keiner Regel. Es ist ihm alles gleichgültig.

 

Da ist noch ein Viertes, Verborgenes. Das ist kaum zu verstehen, hat man es nicht selbst erlebt.

Das Böse ist viral.

Hier muss ich ausholen: Das Böse ist so böse, dass es durch das Gute, selbst ein Modus, nicht besiegt werden kann. Nur das Böse besiegt sich selbst. Das Böse ist sein eigener größter Feind. Das Gute kann nur versuchen, das Gute im Bösen zu verstärken. So betrachtet und nur in diesem Zusammenhang, ist das Böse der Mangel an Gutem, wobei das Böse niemals ein defizitärer Modus ist! Das Gute aber wiederum kommt zwangsläufig an den Punkt der Vergeblichkeit aller Mühen. Und hier öffnet sich der Abgrund zu viertens:

Das Böse ist viral, es ist infektiös angesichts aller Vergeblichkeit.

Das paradiesische Urvertrauen – das Urach- kehrt nimmer zurück, wenn man einmal das Böse erblickt hat. Dann gibt es nur noch die Sehnsucht nach dem Urach, bestenfalls ein Ahnen.

 

Versuche ich diese vier Merkmale mit einer gemeinhin als böse bezeichneten Situation abzugleichen, komme ich zu folgendem Ergebnis:

 

Nehmen wir die folgende einfache Situation. Person A greift Person B mitten in einem verbalen Streit erfolgreich mit einem Messer an.

A hat das Bedürfnis sich zu behaupten. B hat das Bedürfnis, körperlich unversehrt zu sein.[2]

Hier sind nun situative Konsequenzen auf persönliche Bedürfnisse beziehungsweise Werte getroffen.

Bisher, weder auf der situativen- noch auf der Bedürfnisebene, ist keine Handlung oder Person als ‚böse‘ zu bezeichnen.[3]

Person A hat nun ihr Bedürfnis erfolgreich durchgesetzt. Person B nicht.

Person B hat zwei Möglichkeiten zu reagieren, zufrieden, glücklich und entspannt oder frustriert, ängstlich und wütend. Abhängig von seiner Wahl wird Person B Person A als ‚böse‘ oder ‚gut‘ bezeichnen.[4]

 

Im Übertrag dieses Beispiels auf die voran aufgestellten vier Parameter, ergibt sich:

Erstens:

Das Böse ist unberechenbar.

Person A benutzt ein Kommunikations-Mittel (Messer), welches Person B nicht benutzt. Person A überschritt die verbale Ebene hin zur tätlichen. Person B hat nicht mit Person As Angriff gerechnet.

Zweitens:

Das Böse fegt ganz selbstverständlich über die Grenzen des Du, des Anderen hinweg.

Ohne Nachzufragen sticht Person A in Person B mit dem Messer. Die körperliche Unversehrtheit Person Bs ist nicht mehr gegeben. Hier wird Person Bs Bedürfnisgrenze übertreten.

Drittens:

Das Böse ist gnadenlos vor allem Leid, jeder Not, sämtlichem Schmerz.

In der beschriebenen Situation soll die Konvention des verbalen Austauschs angenommen werden. Durch die Verletzung dieser Konvention durch Person A und die Annahme, dass sie nicht auf die Schmerzensschreie und Schweißausbrüche von Person B von dem Messerstechen ablassend reagiert und noch einmal kräftig zusticht, kommen wir zu

Viertens:

Das Böse ist viral.

Person B greift hilferingend nach dem erst besten Stein und erschlägt Person A.

 

Halten wir fest:

Zwischen beiden Aktoren muss demnach eine mentale, emotionale und/ oder das Wollen beziehungsweise die Moral betreffende Unvereinbarkeit bestehen, dass zumindest einer der beiden den anderen als ‚böse‘ bezeichnet, gekennzeichnet durch „a-logisch“, „a-sozial“, „a-moralisch“ und viral.

Diese Erkenntnis, dass selbst das fürchterlichste, grausamste Böse nur ein Modus ist, den ich subjektiv bewerte abhängig von meiner moralischen Konvention, presst mir den letzten Rest an Humanitas-Glauben aus meinen Adern. Jetzt ist alles möglich. Ich bin bei viertens angelangt.

Das paradiesische Urvertrauen – das Urach- kehrt nimmer zurück.

 

 


[1]Vgl. Arendt, Hannah:

- The Origins of Totalitarianism. New York 1951.

- Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. New York 1963 und London 1963.

- Macht und Gewalt. München 1970.

- On Violence. New York 1970 und London 1970.

[2]Hier könnte man entgegnen: Das im europäischen Rechtsraum vertretene Rechtsverständnis „Habeas Corpus“, das Recht, körperlich unversehrt zu sein, ginge über die hier dargestellten situativen Konsequenzen auf persönliche! Bedürfnisse hinaus. Es seien mehr als persönliche, dem sind individuelle Bedürfnisse, es ginge um ein fundamentales Rechtsverständnis. Ich sage dazu: Ein Rechtsverständnis wird de facto  aus einem personalen Prozess gewonnen und damit synthetisch geurteilt und ist nichts a priori Gegebenes.

[3]Vgl. Ausführungen weiter oben zu einem außersystemisch übergeordneten personifizierten Ur-Prinzip.

[4]Auch wir als Beobachter der Situation sind buchstäblich genötigt, diese Situation zu beurteilen. Es geht nicht nur um die Person A und Person B. Es geht auch darum, wie die Gemeinschaft aller Wesen, die sich als handlungsfähige Personen verstehen, das Handeln von Person A und Person B beurteilt. Und letztlich läuft alles auf dasselbe hinaus.

 

 

 

Im Glück nicht stolz sein, im Leid nicht zagen, das Unvermeidliche mit Würde tragen, das Rechte tun, am Schönen sich erfreuen, das Leben lieben und den Tod nicht scheuen und fest an Gott und bess're Zukunft glauben, heißt Leben, heißt dem Tod sein Bitt’res rauben.

(Carl Streckfuß)

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